Zur Lage von Land und Leuten Mitte 19. Jahrhundert
Auf der Grundlage der Lebenserinnerungen von Wilhelm von Waldeyer-Hartz (1836-1921) [1], geadelt 1916, des berühmten Arztes und Wissenschaftlers in Berlin
Einen bemerkenswerten Einblick in die Verhältnisse auf dem Land und seine Zeit (hier: Abbenburg mit Bökendorf und Bellersen) gibt der Sohn des dortigen Oberverwalters Johann Gottfried Waldeyer (1796-1878). Er ist in der ländlichen Abgeschiedenheit aufgewachsen und lernte später die ganze Welt kennen. Mit seinen Lebenserinnerungen (1920 erschienen) will er ein „getreues Bild“ seiner Zeit geben, von guten und traurigen Ereignissen berichten. [2] Er war ein scharfer Beobachter und Chronist seiner Zeit, und er setzt sich auch mit der großen Politik auseinander. Ich finde darin viele gute Gedanken. Er sieht sich als Humanist und beruft sich auf seine gute Vorbildung im Gymnasium und Universitäten.
Vieles ist anders geworden – ob besser? – ob schlechter? Ich will es nicht entscheiden, da man in seinen Jugenderinnerungen leicht 'Laudator temporis acti' (zum Lobredner einer vergangenen Zeit) wird. (S.39)
Leben
Von Waldeyer-Hartz (bis 1913 Wilhelm Waldeyer) war ein großer Mediziner des 19. Jahrhunderts. Er stand als Anatom im engen Kontakt mit Rudolf Virchow, Robert Koch und anderen herausragenden Ärzten seiner Zeit.
Geboren wurde er 1836 in Hehlen/Weser auf dem Schloss des Grafen von der Schulenburg-Hehlen, wo seine Mutter Wilhelmine von Hartz lebte. Er war ein herausragender Wissenschaftler seiner Zeit mit Tätigkeiten in Königsberg, Breslau, Straßburg und Berlin. Mit 41 Jahren wurde er 1887 Mitglied der Leopoldina, der heutigen Deutschen Akademie der Naturforscher in Halle an der Saale. Er entdeckte zum Beispiel die Zellen von Nervenenden, die Neuronen und das Chromosom als bedeutender Teil des Zellkerns und der Zellen.
Mitgliedschaften in vielen Vereinen führten ihn zu Vortragsreisen in die ganze Welt mit Ausnahme von Asien und Südamerika. Er pflegte Kontakte mit dem Königshaus und musste als beseelter Nationalkonservativer die Niederlage des Ersten Weltkriegs erleben.
Familie
Die Familie seines Vaters Johann Gottfried Waldeyer (1796-1878, 82 Jahre) beschreibt er etwas näher: Die Waldeyers stammen ursprünglich aus dem Fürstentum Waldeck mit der Residenzstadt Arolsen. Im Kreis Höxter und angrenzend sind sie verbreitet und mehrere gehören zu den gut gestellten westfälischen Bauern, mit eigenen Bauerngütern oder sie sind Verwalter wie sein Vater, der Oberverwalter in Hehlen, dann kurz in Corvey und für dreißig Jahre in Abbenburg war. Ein Vorfahr, Philipp Waldeyer (Pfarrer in Völsen) hatte eine Stiftung gegründet für Ausbildung und Studium, das dem jungen Wilhelm zugute kam.
Sein Bruder Leonhard Waldeyer war Verwalter auf dem Bökerhof, ein zweiter Bruder war Landwirt im Mecklenburg (S. 340). Leonhard Waldeyer war später Gutsbesitzer in Alhausen (S. 48). Der jüngste Bruder Friedrich Waldeyer war Bauerngutsbesitzer in Ovenhausen (S. 48).
sein Großvater war Philipp Heinrich Waldeyer, Bauerngutsbesitzer und Gemeindeförster in Hembsen (S. 3)
Über seine eigene Familie ist nicht viel bekannt. Er hatte sechs Kinder, von denen zwei im Kindesalter starben.
Ehefrau Emilie von Waldeyer-Hartz geb. Dillenburger und die beiden Töchter (später verheiratete Bonin und Tilmann, S. 368) begleiteten ihn auf großen Reisen.
Ein Sohn war Hugo v. W.-H. (1876-1942, Marineoffizier und Schriftsteller). Dieser hat ihn auch unterstützt, diese Erinnerungen meinem Freundes- und Familienkreis vorzulegen. Von dem älteren zweiten Sohn ist wird im Buch als Kriegteilnehmer berichtet (S. 368). Hier auch sind auch die beiden Schwiegersöhne als Kriesteilnehmer erwähnt,.
Nebenbei: Prof. Dr. med. et phil. Anton Waldeyer aus Tietelsen (1901-1970, 69 Jahre), ebenfalls Anatom, war sein Großneffe.
Die imponierende Hofanlage der Abbenburg (S. 6-9)
Der Abbenburger Hof ist regelmäßig und schön gebaut. Die großen Gebäude, Verwalterhaus und Wohnung für den Ober Verwalter oder Pächter, die großen Scheunen und Viehstallungen liegen der Länge nach zu beiden Seiten einer breiten Fahrstraße, die den Hof mitten durchsetzt;“ Ferner Herrenhaus, großer Gemüsegarten Obstgarten, Fischteich. Nicht weit Mühle (Mahl- und Sägemühle, Müller Runge), Schmiede und Rademacherei (Stellmacher). In der Rentei, nahe beim Herrenhaus gelegen, Wohnhaus und Geschäftsräume des Rentmeisters. Seine Aufgaben: Rechtsgeschäfte, Verhandlungen, Jahresrechnungen (Name: Meyer)
Über die reizvolle Landschaft und die Landwirtschaft (S. 18-19)
Die Landschaft im Kreis Höxter macht durch ihre hügelige Beschaffenheit, ihre gesegneten Fluren, ihre grünen Weiden, Wiesen und Wälder, zwischen denen zahlreiche Bäche, die der Weser zufließen, das belebende Geäder darstellen, auf den Besucher einen wohltuenden, angenehmen Eindruck. Sie ist reich belebt, und fast jede Viertelstunde weiter trifft man beim Wandern auf ein Dorf oder ein Gehöft. …
Der ganze Kreis sowie seine Nachbarkreise … waren fast ausschließlich dem landwirtschaftlichen Betrieb gewidmet und sind es noch heute (1920). Eine große Anzahl fiskalischer und in adeligem Privatbesitz befindliche Güter, jedoch alle nur in der Größe von rund 200 bis 500 Hektaren .. liegen zwischen den bäuerlichen Besitzungen verstreut. .. Wo viele große Güter zusammenlagen, gab es natürlich weniger Kleinbesitz und mehr Tagelöhnerfamilien; die Dörfer mit einem blühenden Bauernstand waren die, welche entfernter von den größeren Gütern lagen.
Über den Anbau von Feldfrüchten (S. 26-27)
Auf den Feldern von Abbenburg sowie auf den benachbarten Gütern wurden vornehmlich angebaut Roggen, aber auch reichlich Weizen Gerste, Hafer und verschiedene Hülsenfrüchte“ … Ein Gutteil diente als Viehfutter (Geschrotet). Als Grünfutter Klee, Esparsette und Lupine. „Gute und große Wiesen gaben in zwei Ernten reichlich Heu“. Ferner Mengkorn (Roggen und Weizen), Kartoffeln.
Er berichtet über die neue Kartoffelkrankheit Kraut- und Knollenfäule, die in den Jahren 1845-49 verheerend in vielen Regionen auftrat:
Es war ein trauriger Anblick, die großen Kartoffelfelder der Güter mit schwärzlichen, faulenden, niedergesunkenen Krautmassen bedeckt zu sehen. Allgemein wurde damals die im Landvolke der Rauch der die Fluren durcheilenden Lokomotiven – kurz vorher war die Eisenbahn durch den Kreis gelegt worden – als Ursache der Erkrankung angesehen. Phytophtora ab 1845
Ölfrucht in Form von Raps und Rübsamen (feines Öl).
Über die Tierhaltung (S. 27-28)
An Vieh wurden gehalten .. vier Gespanne und 30-40 Milchkühen, einige Reitpferde, ein Zuchtstier, zwölf Arbeitsochsen und etwa 10 junge Rinder und Kälber gehalten, ferner rund 1200 Schafe. Von Federvieh über 100 Hühner, 30 Gänse und Enten, einige Puter, dazu 100 Tauben.
Verarbeitung und Tierpflege
Überraschend kenntnisreich beschreibt er Brotbacken, Flachsverarbeitung und Leinenbereitung, Seifenherstellung, Kerzenherstellung Schafwäsche und Schafschur.
Festlichkeiten
Nikolausabend, Fastnachtsspiele und das Erntefest (S. 37-39). Den Höhepunkt bildete jährlich das Erntefest:
Im Mittelpunkt stehen zunächst die vier geschmückten Erntewagen, jeder mit 4 Pferden bespannt. Ein Erntehahn (eine Holzfigur, ebenfalls geschmückt mit Tüchern, Schnüren Flittern), wird im ersten Wagen präsentiert. Alle Bewohner sind in Festtagstracht, Gutsherrschaft und Gäste waren anwesend und die fünf Dorfmusikanten sorgen für entsprechende Musik. Zunächst zieht die Kolonne raus zum nächsten Feld für das Einholen der letzten Garben. Bei der Umfahrt um die Hoflinde werden Ansprachen gehalten mit Hochrufen auf die Gutsherrschaft und alle Hofleute durch den Hofmeister. Choräle werden gesungen und kurze Gedichte über die Geehrten folgen. – Am Nachmittag spielte die Musik zum Tanz, bei denen sich auch Mitglieder des Adels beteiligten und mit den normalen Bürgerlichen tanzten.
Der Zustand von Straßen und in den Dörfern
Waldeyer hatte den Vergleich mit den Verhältnissen im Braunschweigischen, das ja bereits 1871 zu Preußen kam. Er berichtet vom schlechten Wegezustand, über den Stand der Lehrer, über die Sauberkeit im Dorf und die hygienischen Verhältnisse bei Kindern. Ferner +über die strenge Sitzordnung beim Gottesdienst in Bellersen, wo die Haxthausen das Patronatsrecht hatten.
Mit der Zeit haben die Zustände sich wesentlich verbessert: „Ich besuche fast jedes Jahr meine liebe westfälische Heimat. Jetzt sind alles Dörfer und Städte durch gute Straßen verbunden, die Hohlwege brauchen nicht mehr benutzt zu werden … die Dorfstraßen sind besteint und sauber, die Häuser sehen freundlicher aus .. In den Dorfkrügen kann man jetzt auch Bier und Wein haben. Dieselbe vorteilhafte Veränderung sieht man bei den Kindern und Schulen. (S. 40-42)
Die Ursache ist die Rückständigkeit unter der Herrschaft von Fürstbischöfen. Zwar ließe sich unter dem Krummstab gut leben, aber die Geistlichkeit sei eben auch konservativer und zögernder mit Reformen. Ab 1807 und 1813, unter französischer bzw. preußischer Verwaltung, besserten sich Verhältnisse sichtbar und rasch. (S. 42-43)
In seinen Lebenserinnerungen der strenge Herr Professor und dem Kürzel auf dem Einband, eine stolzes "v W H" |
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Die Droste und Friederich Wilhelm Weber begleiteten seinen Weg Über die Droste schreibt er (S. 15) Sie war zum Besuch ihres Onkels. Des Freiherrn von Haxthausen, nach Abbenburg gekommen und blieb einige Wochen dort. So lernte sie uns Kinder, damals etwa im Alter von 7,5 und 2 Jahren kennen. Sie rief uns dann gewöhnlich des Morgens unter ihre im ersten Stock des Herrschaftshauses gelegenen Zimmerfenster und erzählt uns im Gras unten liegenden Buben selbsterfundene Märchen. … Anmerkung: Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) lebte ab 1841 in Meersburg am Bodensee bei ihrer Schwester und kam noch ein-, zweimal zu Besuch in dieser Zeit. Es war 1843 bzw.1845 [3, 4], was in der Lebenschronik der Droste ersichtlich wird. F. W. Weber bekommt Erwähnung im Beitrag 2 unter Anmerkungen etc. (S. 404): Ich war mit ihm persönlich gut bekannt; als wertes Vermächtnis von ihm bewahre ich ein mit eigenhändiger Widmung von ihm versehenes Exemplar seiner Goliath-Dichtung. Er nennt ihn „ohne Frage den bedeutendsten unter den neuen Dichtern“ |
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"Fortschritte biologischen Wissenschaft und der praktischen Medizin" (S. 393 f)
In Kapitel XV blickt von Waldeyer-Hartz zurück auf die enormen Entwicklungen auf die Gebiete der Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Evolutionstheorie von Darwin (1859), die Entdeckungen der Biologie, ihre Anwendung in Medizin und in Pathologie haben vieles auf den Kopf gestellt. In seinen Worten waren es „gewaltige Fortschritte, welche Menschengeist und Menschenfleiß errungen haben“. Er selbst durfte „am hohen Bau der Wissenschaft und Weltwirtschaft mitarbeiten“.
Auf dem Gebiet der Technik hebt er die Beleuchtung und Elektrizität, die neuen Verkehrsmittel Eisenbahn, Straßenbahn und Auto hervor, ja auch das Unterseeboot und das Flugzeug erlauben den Zutritt in neue Welten.
Sein Fortschrittsglaube ist auch im hohen Alter mit 84 Jahren, als er die lebenerinnerungen veröffentlicht, ungebrochen und er hofft auf ein Wiedererlangen der Leistungsfähigkeit der Wissenschaft wie vor dem Ersten Weltkrieg. - Heute, 100 Jahre später, haben wir einen Entwicklungsstand erreicht, der uns ein bequemes und weitegehend sorgenfreies Leben ermöglicht. Es gibt dank Technik viele Hilfen und Unterstützung in allen Bereichen unserer Tätigkeit. Der menschliche Forschergeist und die Schaffenskraft haben ganz neue Dimensionen erschlossen. Das ist aber leider nur eine Seite der Medaille, die andere Seite mit einer nachhaltigen Ökonomie im Einklang mit der Umwelt, und das globale Zusammenleben der Menschen sind zwar bei vielen Gelegenheiten ernstes Thema, aber scheinen nicht gelöst werden zu können. Die Hoffnung, dass die Corona-Pandemie des Jahres 2020 neue Fenster und Sichtweisen auf unser leben eröffnet, ist kaum sichtbar.
Abschied
Er nehme nun Abschied ohne Bitterkeit von diesem Leben und wünscht den Nachfahren viele weitere glückliche Tage. In Anlehnung an das Ora et labora der Benediktiner, fasst er sein Lebensmotto er in diesen Zweizeiler:
Arbeitslust und Arbeitskunst / Sind des Himmels höchste Gunst! (S. 393)
In diesem Zusammenhang: trotz lebenslanger Freundschaft zum Stadtpfarrer von Höxter Josef Rochell (1836-1913) aus Beverungen und Sozialisierung im katholische Umfeld bleib er offen für Dispute der beiden großen Religionen und des Judentums, vertreten durcn seinen Freund, den Mediziner Max Conradi (geb. Cohn ,1836-1901) in Wiesbaden und bezeichnet selbst als Freigeist.
Und sein Schlusswort endet mit dem schönen Gedicht. Mit des "Abends Matten" ist Erfahrung des Ersten Weltkrieges gemeint:
Mein Morgenrot / Viel Schönes bot.
Mein Tag war hell / Mein Lebensquell.
Auf Abends Matten / Fiel dunkler Schatten.
Nun kommt ganz sacht / Die stille Nacht .-
Ich zage nicht: / Durch Nacht zum Licht!
Ein großes Forscherleben ist ein Jahr später, im Jahr 1921, zu Ende gegangen.
„Eine Wanderung in der Christnacht (S. 61-62)
Zu den Ferien ging's nach Hause. Eine Rückkehr, bei der ich beinahe das "Gruseln" gelernt hätte, steht mir noch lebhaft vor Augen. Es war der 24. Dezember, am Tage vor Weihnachten. Wir konnten erst an diesem Tage von Paderborn abreisen. In der Nähe der Stadt Brakel trennte ich mich von meinem Gefährten, um in der Richtung des großen v. Asseburgschen Gutes Schäferhof über Bellersen nach Abbenburg zu gelangen. Es war ein kalter Wintertag und eine tiefe Schneedecke breitete sich über den Boden aus.
Mir war die Gegend bekannt und ich verließ bald, im Vertrauen auf meine Ortskenntnis, die Landstraße, um querfeldein, des tiefen Schnees nicht achtend, auf einem näheren Wege nach Abbenburg zu gelangen. Der Weihnachtsbescherung ging ich an dem Abende nicht aus dem Wege, denn es war bei uns Sitte, diese erst am ersten Weihnachtstage vorzunehmen. Ich ging, wie ich meinte meiner Richtung sicher, auf den Weg wenig achtend, munter fürbaß.
Ehe ich es merkte, war die Nacht hereingekommen, freilich mit klarem Mondlicht. Als der Mond hervorgekommen war und die Gegend beleuchtete, blieb ich einen Augenblick stehen, um Umschau zu halten, wo ich wäre und wie ich weiter wandern müsse. Siehe da, ich stand mitten in einer im Mondlicht glänzenden Schneefläche, die sich nach drei Seiten dem Auge unbegrenzt ausdehnte und kein Wegemerkmal darbot; nirgends eine Spur, daß etwa dort Jemand gegangen sei. Die einzige Spur war die meinige. Nach der vierten Seite sah man einen dunklen Streifen, augenscheinlich einen Wald. Man hörte auch von da die Füchse bellen und ab und zu einen Eulenschrei; aber nach welcher der drei anderen Richtungen mußte ich meinen Weg nehmen?
Ohne die alles verhüllende, wie eine Unendlichkeit auslaufende gleichmäßige Schneedecke hätte ich mich wohl, auch bei Mondschein und selbst bei Sternenlicht, zurechtgefunden; aber es ist eigentümlich, wie sehr eine solche Eintönigkeit das Zurechtfinden erschwert. Da stand ich nun in der kalten Winternacht, wie man sagt, mutterseelenallein; es war mich doch ein wenig bang zu Mute. Endlich, nach längerem Überlegen und Umherschauen, wobei mich der Wald leitete, glaubte ich der Richtung sicher zu sein und schritt nun vorsichtig weiter, immer zurückschauend, ob meine Fußspur auch bei der Richtung blieb und nicht etwa zu einer Kreislinie wurde.
Ich hatte mich nicht getäuscht; nach einer guten Viertelstunde tauchten vor mir die dunklen Gebäude des Schäferhofes auf und ich sah auch noch einzelne Lichter. Als ich den Hof erreicht hatte, es mochte 9 Uhr abends sein, ging ich auf eines der Lichter zu; es führte in den Rinderstall, wo der Hirt noch wach war; sonst war es still auf dem Hofe. Man geht, namentlich im Winter, auf dem Lande früh zu Bett. Da ich noch einen Weg vor mir hatte, der durch ein Gehölz an einem Bache entlang führte, wo man, ungeachtet des Mondlichts, nicht so gut sah, so bat ich den Hirten nachzufragen, ob nicht Jemand von den Hofleuten mich gegen eine Belohnung diese Wegstrecke geleiten wolle. „Jo,“ sagte er, „das iss de olle Heinrich, die schleppt doch nich, die soll dat will Geren daun“.
Der Genannte lag auf seinem Strohlager in dem Stalle, schlief aber in der Tat noch nicht und war bereit, mit mir zu gehen. Kaum waren wir aber einige Schritte unter den Bäumen am Bache vorsichtig entlang gegangen, da stieß der alte Mann recht kräftig mit dem Kopfe gegen einen Baumstamm, so daß es mir leid tat, ihn veranlaßt zu haben mitzugehen. Ich nahm mir vor, ihn bald zu entlassen, damit er nicht noch zu Schaden komme. Wir kamen auch gut durch die dunkle Strecke, und nachdem ich meinen Begleiter durch ein gutes Trinkgeld erfreut hatte, ging ich allein weiter.
Hundegebell belehrte mich bald, daß unser Kirchdorf Bellersen in der Nähe sei. Man hört dieses Gebell, ebenso einen Hahnenschrei, in stillen Nächten auf dem Lande schon aus weiter Ferne; es war mir ein angenehmer Laut. Der Weg wurde wieder heller und gegen 11 Uhr in der Nacht war ich, zwar durch die mehrstündige Wanderung im tiefen Schnee etwas ermüdet, aber froh, daß alles gut abgelaufen war, daheim."
Literatur
[1] Wilhelm von Waldeyer-Hartz (1920): Lebenserinnerungen. Zweite Auflage 1921, Verlag von Friedrich Cohen Bonn 1921. 419 Seiten mit ausführlicher Gliederung und Namensregister
[2] Heinz Düsenberg, Bellersen, verdanke ich den Hinweis auf das Thema. In seinen digitalen Winter- und Weihnachtsgeschichten 2020, hatte er ein Thema der Winterwanderung des jungen Wilhelm Waldeyer gewidmet und weitere Informationen aus dem Buch geschrieben.
[3] Freundlicher Hinweis von Bernhard Aufenager (Bökendorf): 1843 (09.06 bis 27.07.) war die Droste mit ihrer Mutter in Abbenburg. 1845 (19.5. bis Anfang Oktober) war ihr letzter Aufenthalt hier. Sie muss auf der Abbenburg den schwer erkrankten Friedrich von Haxthausen (Onkel Fritz) pflegen. Als sie Ende September selbst sehr krank wird, ordnet der Arzt ihre Rückreise nach Rüschhaus an.
[4] Walder Gödden: Tag für Tag im Leben der Annette von Droste-Hülshoff. 2. Auflage. 1996. Freundlicher Hinweis von Bernhard Junker(Brakel).
Die Droste war selbst kränklich. Trotzdem unternahm sie Besuche in Abbenburg, um dort auszuhelfen bei der Pflege von kranken Familienmitgliedern oder um Familienstreit zu schlichten. Nebenbei ist sie ab und zu genervt von den Bitten der Verwandtschaft nach persönlichen Gedichten, sie beklagt, dass sie mit dem oberflächlichen Leben all zu sehr beschäftigt sei und nicht zur eigentlichen literarischen Arbeit komme.